Herr Dr. Brandy, die Tage vor Ostern sind für die Kirchen eine der wichtigsten Wochen im Jahr. Wie schauen Sie auf die bevorstehenden Feiertage?
Hans Christian Brandy: Wir feiern in diesem Jahr zum zweiten Mal unter Corona-Bedingungen die Karwoche und das Osterfest. Im letzten Jahr waren Präsenzgottesdienste verboten. In diesem Jahr dürfen nach aktueller Lage Gottesdienste stattfinden. Darüber bin ich froh. Die Gemeinden entscheiden jetzt jeweils nach Lage vor Ort, was sie machen. Es ist selbstverständlich, dass in der aktuellen Lage alles getan werden muss, um weitere Infektionen zu vermeiden. Aber wir haben sehr detaillierte Hygienekonzepte, die seit Langem bestens bewährt sind und professionell umgesetzt werden. Deshalb halten wir Präsenzgottesdienste für gut vertretbar. Gerade in dieser Zeit der Belastung und auch der Einsamkeit sind Gottesdienste für viele Menschen sehr wichtig. Andere Gemeinden verzichten auf Präsenzgottesdienste. Sie setzen dann auf andere Formate. Es gibt eine Fülle neuer und kreativer Ideen: Kurze Gottesdienste im Freien, Internet-Formate, Oster-Wege, Postkarten-Aktionen, geöffnete Kirchen für Gebet von Einzelnen. So spannungsvoll und anstrengend die Situation für die Gemeinden auch ist: Dieser Reichtum ist ein Schatz.
An den schwankenden Vorgaben der Politik gibt es derzeit viel Kritik. Was meinen Sie dazu?
Es ist offensichtlich, dass gesellschaftlich und politisch die Spannungen größer werden. Das überrascht mich nicht angesichts der dramatischen Problemlage: Da sind einerseits die Existenzsorgen von Unternehmen und Einzelnen, gewaltige Belastungen für Familien und Kinder, für Pflegepersonal, Erzieherinnen und viele andere. Und da ist die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Begegnung. Dagegen aber steht die zwingende Notwendigkeit, der dritten Welle entschlossener zu wehren, um Menschen vor Krankheit und Tod zu schützen. Die politisch Verantwortlichen suchen zwischen diesen Polen mühsam einen Weg. Längst nicht alles gelingt, Fehler sind offensichtlich. Kritik daran ist in einem freien Land selbstverständlich. Die verbreitete Häme gegenüber den Regierenden finde ich aber falsch. Allen, die Verantwortung tragen, gebührt Dank und Respekt, der sich auch in kritischem Dialog äußert. Als Kirchen sind wir insgesamt dankbar für ein konstruktives Miteinander mit den politisch Verantwortlichen in unserem Land. Wir schließen sie weiter ein in unsere Fürbitte und unterstützen, wo wir können.
Wir gehen jetzt in die Passionswoche mit dem Karfreitag. Welche Botschaft geht heute vom Tod Jesu am Kreuz aus?
Ich glaube, dass vieles von dem, was in den biblischen Geschichten über das Leiden von Jesus erzählt wird, Menschen in den zurückliegenden Monaten in ihrem eigenen Leben erfahren haben.
Woran denken Sie da?
Jesus hat geweint, er hatte Angst und war verzweifelt. Auch bei vielen von uns sind Tränen geflossen in dieser Corona-Zeit. Angehörige und nahe Menschen sind gestorben und viele konnten sich nicht so von ihnen verabschieden, wie sie es gewünscht hätten. Etliche sind selbst erkrankt und bangten um ihre Gesundheit. Die Sorgen um die eigene wirtschaftliche Existenz sind bei vielen gewachsen. Immer wieder höre ich, dass Menschen an der Grenze ihrer Kräfte sind, durch mehrfache Belastung bei der Arbeit, Versorgung der Kinder, Home-Schooling, Pflege von Angehörigen. Und durch die Isolation. Dieses Jahr hat manche persönliche Passionsgeschichte geschrieben.
Das Selbstverständnis der Kirche ist es, gerade in Krisenzeiten Trost und Hoffnung zu geben. Steckt für Sie auch etwas davon in der Leidensgeschichte Jesu?
Noch in der Nacht vor seinem Tod betet Jesus, dass Gott ihm Leid und Tod ersparen möge. Vergebens. Und doch liegt gerade in dieser Geschichte für mich auch ein Trost. Menschen fühlen sich verlassen, vielleicht auch von Gott. So erging es Jesus auch. Er hat am Kreuz geschrien: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ Mehr Gottesferne geht wohl nicht. Aber es kann tröstlich sein, dass wir Gott unser Leid klagen können, ja, ihn sogar anklagen können für das, was uns widerfährt. Das ist für mich eines der tiefsten Geheimnisse des Glaubens: Auch in der Gottesferne und im Glaubenszweifel weiß ich mich bei Gott gehalten. Gott ist solidarisch mit uns in unserem Leiden. Vom Leiden Jesu erzählen wir, weil auch darin Gott ist. Und weil dann Ostern kommt.
Werden wir in diesem Jahr Ostern anders feiern als in den Jahren zuvor?
Vielen von uns ist in den letzten Monaten deutlich geworden, wie zerbrechlich unser Leben ist. Den Schmerz über die mehr als 75.000 Verstorbenen in unserem Land haben wir gemeinsam zu tragen. Gerade das gehört in diese Karwoche für mich mit hinein. Aber auch füreinander Verständnis zu haben und barmherzig miteinander umzugehen. Einander Fehler zu vergeben. Daher wird in diesem Jahr Ostern anders sein. Vielleicht werden wir intensiver erleben, dass nach der Dunkelheit von Karfreitag das Licht von Ostern scheint und den Sieg des Lebens verkündet.
Was möchten Sie den Menschen zu Ostern sagen?
Leiden, Sterben und Tod haben nicht das letzte Wort. Jesus hat den Tod besiegt. Das feiern wir an Ostern. Auch in diesem Jahr. Vielleicht brauchen wir diese Botschaft jetzt besonders, da Leid und Schmerz so spürbar sind. Ostern ist das Fest des Lebens. Diese Hoffnung kann uns im Angesicht weiterhin schwerer Herausforderungen Mut machen. Und wir brauchen gerade jetzt Hoffnung, damit wir einen langen Atem haben für die vor uns liegenden Aufgaben. Das Leben siegt. Das ist die wunderbare Oster-Botschaft: Aus dieser Hoffnung heraus können wir kreativ und mutig sein, um das Miteinander zu stärken bei zunehmender Verzagtheit.
Hans Christian Brandy (62) steht als Regionalbischof den gut 200 evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden zwischen Elbe und Weser vor und ist seit 2010 im Amt.
Das Interview führte Sonja Domröse, Pressesprecherin Sprengel Stade.
Regionalbischof Hans Christian Brandy