Es ist heiß. Unerträglich heiß. Denn sie ist in die Wüste geflohen. Weg von den Demütigungen. Schwanger ist sie. Und weiß nicht mehr weiter. Da tritt ein Engel zu ihr und sie, die bislang nur die namenlose Magd war, wird vom Boten Gottes mit ihrem Namen angesprochen: Hagar.
Ein Name gibt Würde und verleiht Ansehen. Und manchmal sind Namen auch sprechend. Wie der Name Hagar. Übersetzt heißt er: Fremde.
Wer ist Hagar, diese Frau, die erste weibliche Gestalt der Bibel, die von Gott durch einen Engel angesprochen wird? Sie ist eine Ägypterin, die als Magd bei Sarah und Abraham, den Erzeltern Israels, lebt. Da Sarah bislang kinderlos geblieben ist, gibt sie ihre Magd ihrem Mann Abraham, damit er „zu ihr gehe“. Ein üblicher Brauch im Alten Orient: Kann die Herrin kein Kind bekommen, schläft ihr Mann mit der Magd. Im Schoß der Herrin bekommt die Magd ihr Kind und das Neugeborene gilt als legitimer Erbe. Quasi eine Art „Leihmutter“ soll Hagar sein. Für uns heute ein mehr als befremdlicher Brauch.
Es kommt zu Konflikten. Die schwangere Hagar flieht noch vor der Geburt, weil sie die Demütigungen ihrer Herren nicht mehr erträgt. So findet der Engel sie in der Wüste und spricht sie an: „Hagar, wo kommst du her und wo willst du hin?“ So beginnt das Gespräch zwischen der Frau und dem Boten Gottes. Manchmal braucht es vielleicht nicht mehr als diese Frage an einen verzweifelten Menschen: „Wie geht es dir und was hast du vor?“
Der Engel sagt Hagar zu, dass sie einen Sohn gebären wird, dessen Name „Ismael“ heißen soll. Wieder ein sprechender Name, denn übersetzt heißt er: Gott hört. Hagar wird wieder zurückkehren zu Sarah und Abraham. Aber vorher nennt sie Gott bei Namen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Noch ein sprechender Name in dieser wunderbaren Geschichte, in der Gott hört und sieht und sich der Fremden annimmt.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Die Worte dieser Frau begleiten uns durch die nächsten zwölf Monate: Hagar legt ein ganz persönliches Glaubensbekenntnis ab. Und lädt ein, diese Erfahrung zu teilen: Gott sieht mich.
Gesehen werden. Wahrgenommen, ernstgenommen werden. Das brauchen Menschen. „Mich sieht niemand“, höre ich manchmal als Klage. Oder: „Niemand sieht, was ich hier tue.“ Nicht gesehen zu werden, das kränkt und das ist der innere Motor für Konflikte. Nicht gesehen werden, das macht einsam und lässt Menschen in Not allein. In Berthold Brechts Dreigroschenoper heißt es: „Denn die einen sind im Dunkeln, und die anderen sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Dazu ist die Jahreslosung ein Gegenwort: Für Gott ist niemand im Dunkeln. „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Der Engel Gottes wendet sich gerade der Fremden zu. Gott sieht und hört ihr Elend.
Was sieht und hört Gott in diesem neuen Jahr 2023? Er sieht eine Welt in Unordnung und Krisen. Er sieht viele Menschen im Dunkeln. Als Christenmenschen vertrauen wir darauf: Gott hat durch die Geburt von Jesus Christus das Dunkel hell gemacht – so hören wir zu Weihnachten. Gott sieht uns liebevoll an und ist an unserer Seite. Gott lässt sein freundliches Angesicht leuchten über jedem Menschen. In den Augen Gottes wird niemand übersehen.
Das kann auch unseren menschlichen Blick auf die Welt verändern. Es ermutigt dazu, dass auch wir auf andere mit dem Blick der Liebe und Barmherzigkeit schauen. Gerade auf die im Dunkeln. Wo sind in meinem Umfeld Menschen, deren innere oder äußere Not niemand wahrnimmt? Wo kann ich zeigen: „Ich sehe dich“? Wo kann ich helfen? Kein Mensch darf übersehen werden.
Wir leben in herausfordernden Zeiten. Das ist wahr. Aber wir vertrauen auf einen Gott, der sieht und hört und Menschen Halt gibt - und die nötige Orientierung, damit wir verantwortungsvolle Wege gehen können.
Ein gesegnetes Jahr 2023!
Ihr
Dr. Hans Christian Brandy
Regionalbischof für den Sprengel Stade